Die Konstruktion unserer Wirklichkeit

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“ Heinz von Förster

 

Wer kennt die Wahrheit?

Vor Gericht wird oft, trotz Beweisen und Aussagen unter Eid, nicht die ganze Wahrheit gefunden, was immer wieder zu ungerechtfertigten Gerichtsbeschlüssen führen kann. Auch wenn natürlich viele Urteile zu Recht gesprochen werden, gilt es als erwiesen, dass eine bestimmte Prozentzahl von Menschen in Gefängnissen Strafen verbüßen, die sie nie begangen haben. Wer sich näher mit der Geschichte der Justiz befasst, kann schnell entdecken, dass 'die Wahrheit' sich außerdem sehr stark an dem orientiert, was im Staat aktuell als 'wahr' gilt.

 

Unsere Wahrheiten verbinden uns

Wir alle leben in Beziehungen zu anderen Menschen, Tieren, Pflanzen, Elementen – kurz: unserer Umwelt. Dabei verbinden uns ähnliche oder dieselben Realitäten. Wenn ich beispielsweise 'Tisch' sage, weiß mein Gegenüber, was ich meine.

 

Wir fühlen uns Gruppen und Menschen zugehörig, die ähnlich wie wir ticken. In der Familie, Kindertagesstätte und Schule lernen wir Denken, Fühlen und Verhalten, mit dem wir dazu gehören und leiden, wenn wir es nicht tun. Gleiche Wirklichkeiten zu teilen verbindet, und diese Verbundenheit schenkt die notwendige Sicherheit uns in der Welt, in der wir leben, zurechtzufinden.

 

Unsere Wahrheiten trennen uns

Oft verstehen wir uns aber auch nicht. Missverständnisse in Liebesbeziehungen, mit den Kollegen, der Vorgesetzten, sogar mit der besten Freundin – das passiert. Woran liegt das? Neben der kollektiven Wirklichkeit, die uns einander verstehen lässt, trägt jeder Mensch eigene Überzeugungen, so genannte Glaubenssätze oder Schemata in sich.

 

Unsere eigenen Wirklichkeiten und Überzeugungen bestimmen, was wir von unserer Umwelt wahrnehmen und wie wir sie beurteilen.

Kennen Sie das? Sie beschäftigen sich mit einem Thema besonders intensiv und plötzlich fallen ihnen in ihrer Umgebung Menschen, Begebenheiten zu diesem Thema verstärkt auf. Beispiel: Eine Person entscheidet sich zu heiraten. Plötzlich nimmt sie wahr, wie viele Brautmodengeschäfte es in ihrer Stadt gibt, wie oft es in den Medien um das Thema 'Hochzeit' geht und dass in der S-Bahn enorm viele Menschen mit Eheringen sitzen. Die Person hatte zuvor all das nicht wahrgenommen, weil es nicht in ihrem Fokus war.

 

Unsere Wirklichkeiten bestimmen unseren Fokus. Das ist sogar wichtig, damit wir Reize, die weniger relevant für uns sind, ausblenden können und nicht von den ständig auf uns einströmenden Informationen überschwemmt werden. Aber klar wird auch: Wir nehmen selektiert wahr und bewerten auf der Grundlage unserer eigenen Wirklichkeit. Deshalb kommt es auch immer wieder zu Missverständnissen mit anderen. Und natürlich verpassen wir auch Möglichkeiten unser Leben variabler zu gestalten.

 

Über den Tellerrand schauen und staunen

Das bedeutet, wenn wir unsere Komfortzone, unsere eigene Wahrheit und Realitäten mal verlassen, dann staunen wir oft, wie anders Leben sein kann. Vielen Menschen ergeht das zumindest auf Reisen in andere Kulturen so. Auch im Alltag zu wissen, dass es zur eigenen Position immer auch eine Gegenposition gibt und dazwischen noch viele verschiedene Abstufungen im anders Denken und Empfinden existieren, kann helfen, freier und großzügiger zu anderen Menschen, aber auch zu sich selbst zu sein. Denn das Wissen, dass es viele Wahrheiten gibt, stellt eine Chance dar, die eigene Geschichte und die eigenen Defizite neu zu bewerten.


Verfestigte Geschichten verflüssigen

Die Seiten an uns, die wir nicht mögen, die uns immer wieder Probleme im Privatleben oder Job bereiten und die wir unsere 'Fehler und Schwächen' nennen, lehnen wir oft massiv ab und verurteilen uns hierfür. Wir wollen diese Schwäche loswerden, kämpfen dagegen an, nehmen uns vor, es anders zu machen und erfahren dabei immer wieder, dass uns das nicht gelingt. Das führt wiederum zu Frustration und einem Gefühl von Hilflosigkeit, nichts verändern zu können.

 

An dieser Stelle geht es in der systemischen Beratung & Therapie darum, diese 'festgefahrene Wahrheit' zu hinterfragen, zu erschüttern oder zu verflüssigen, wie es der systemisch arbeitende Psychiater Steve de Shazer, nannte. Eine Möglichkeit ist die Frage nach der Ausnahme: Ist es Ihnen in Ihrem Leben schon einmal gelungen anders zu reagieren? Was war damals anders?

 

Wichtig ist es auch zu verstehen, was der gute Grund sein mag, der hinter dem Problemverhalten steckt. Denn jedes Verhalten macht irgendeinen Sinn, ist als Lösungsversuch des Problems anzusehen, auch wenn es noch so unsinnig erscheinen mag und sich destruktiv auswirkt.

 

Hier ein Beispiel:

Die Klientin Frau A. berichtet, dass ihr neuer Vorgesetzter sie durch seine harsche Art immer wieder massiv verunsichert, so dass sie sich danach besonders anstrengt. Das wiederum setzt sie dann aber oft so unter Druck, dass ihr mehr Fehler unterlaufen als sonst. Über diese Selbstunsicherheit ärgert sie sich sehr und möchte sie „endlich loswerden“ und ihrem Chef mit mehr Selbstvertrauen begegnen.

 

Was könnte wohl ein guter Grund für ihre Selbstunsicherheit sein? Das große Bedürfnis, alles richtig zu machen. Und was sichert der Anspruch an sich selbst, „alles richtig machen zu wollen“? Den Wunsch und die menschlichen Grundbedürfnisse nach Anerkennung und Sicherheit (in diesem Fall auch: den Arbeitsplatz zu erhalten).

 

Durch die Frage im Beratungsprozess „War das mal anders?“, entdeckt Frau A., dass es Phasen in ihrem Arbeitsleben gab, in denen sie sehr viel mehr Selbstvertrauen hatte. Anders war damals auch der Chef: Er war meistens freundlich und ein wohlwollender, väterlicher Typ.

 

Eine Wahrheit kann nun natürlich sein, dass es allein am neuen Chef liegt. Aber ist das hilfreich? Die Klientin müsste den Arbeitsplatz wechseln. Und was, wenn dort wieder ein „strenger Chef“ auftaucht? Unwahrscheinlich wäre es nicht! Interessanter wäre also herauszufinden, wie sie mit der Situation souveräner umgehen kann. Was sie bei sich selbst, in ihrem eigenen System, ihrer eigenen Wahrheit, verändern kann.

 

Eine neue Geschichte entwickeln

Ist eine verfestigte, innere Wahrheit erst einmal ins Wanken geraten, besteht die Möglichkeit eine neue Geschichte zu erzählen.

 

Eine neue Wirklichkeit wäre, dass wir uns für 'Schwächen' nicht mehr ablehnen, uns nicht weiter verurteilen, sondern Verständnis für unser Verhalten aufbringen. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht verändern wollen und können. Jedoch nehmen wir aus dieser mehr wohlwollenden Haltung heraus neue Aspekte unseres Lebens auf, beurteilen Situationen in unserem Leben gelassener und nehmen neue Facetten an Mitmenschen wahr. Aus diesem größeren Radius aus Möglichkeiten, entstehen neue Verhaltensmöglichkeiten – und somit Wendepunkte in unserem Leben.

 

Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben:

 

Durch die Arbeit in der Beratung am 'guten Grund' ihres Verhaltens, ihrer Gefühle, einer Arbeit mit inneren Anteilen, dem familiären Kontext und dem Entdecken biographischer Hintergründe, gelingt es Frau A. mit der Zeit, ihren selbstunsicheren Anteil mehr zu verstehen und ihn auch als hilfreichen Part zu erleben. Immerhin hat das Bedürfnis 'alles richtig machen zu wollen' ihr auch Erfolg im Leben beschert und sie in ihrem Beruf motiviert. Mit der Zeit erkennt die Klientin außerdem, dass ihr Vorgesetzter selbst 'gute Gründe' für sein harsches Auftreten hat. Diese Erkenntnis lässt ihn menschlicher und weniger bedrohlich erscheinen.

 

Frau A. gelingt es mit der Zeit in den kritischen Situationen mit ihrem Chef immer häufiger in Ruhe durchzuatmen, sich auf sich zu besinnen und dann wie gewohnt weiter zu arbeiten. Je häufiger ihr das gelingt, desto mehr stärkt das ihr Selbstvertrauen (und reduziert ihre Hilflosigkeit).

 

Später erzählt sie außerdem einer vertrauenswürdigen Kollegin von ihrer Verunsicherung. Zuvor schämte sich Frau A. zu sehr dafür und erwartete von sich selbst „alles im Griff“ zu haben. Die positiven Rückmeldungen der Kollegin unterstützen die Klientin noch mehr, fühlt sie sich doch nicht mehr ganz allein damit.

 

Im besten Fall kann sie nun auch (wieder) die Situationen wahrnehmen, in denen der Chef sie neutral oder gar auch mal wohlwollend anspricht.

 

Eine Wahrheit = eine Möglichkeit. Viele Wahrheiten = viele Möglichkeiten

Das Wissen, dass wir uns unsere Wirklichkeit selbst erschaffen, schenkt uns die Freiheit, neue Wirklichkeiten zu entwickeln. Manchmal kann das ganz leicht und rasch geschehen, oft müssen wir aber eine Weile dran bleiben. Aber - es lohnt sich!